Januar 2024 | Zwölf Monate, zwölf Menschen | Interview mit Prof. Dr. Ryan Gilmour
Januar 2024 | Zwölf Monate, zwölf Menschen | Interview mit Prof. Dr. Ryan Gilmour

„Organische Chemie ist unverzichtbar“

Prof. Dr. Ryan Gilmours Steckenpferd ist das Moleküldesign. Seine Forschung umfasst die Entwicklung wichtiger kleiner Moleküle, vom intelligenten Katalysator bis zum kohlenhydratbasierten Impfstoff. Im Januar erhielt er einen „ERC Proof of Concept Grant“ des Europäischen Forschungsrats.
Ryan Gilmour in seinem Büro – dort findet sich historische chemische Literatur neben aktuellen Veröffentlichungen.
© Nike Gais

Sie sind im Südwesten von Schottland aufgewachsen, in der Heimat des Dichters Robert Burns ...
Wir Schotten wachsen mit Burns auf wie die Deutschen mit Goethe. Sein Lebenswerk ist ikonisch, aber er fing als einfacher Bauer an. Er schrieb wunderschön und intelligent über alltägliche Themen, und das faszinierte mich schon als Schuljunge. Zu Neujahr singen Menschen auf der ganzen Welt eines seiner bekanntesten Lieder „Auld Lang Syne“. Sein Werk ist kultur- und generationsübergreifend, ähnlich wie die organische Chemie.

Wie kommt ein literaturbegeisterter Mensch zur Chemie?
Ich hatte einen hervorragenden Chemielehrer; er hatte keine Angst, uns mit komplizierten Themen zu konfrontieren. Später, an der St. Andrews University und auch an der Cambridge University, profitierte ich enorm von hervorragenden Lehrern. Diese Erfahrungen haben die Art, wie ich heute unterrichte, geprägt. Ich liebe die Möglichkeit, die mein Beruf mir bietet: junge Menschen für die Chemie zu begeistern.

Was reizt Sie besonders an der organischen Chemie?
Ich kann mir keine Welt ohne sie vorstellen. Ohne Antibiotika? Ohne Krebsmedikamente? Lieber nicht. Und wie wäre es heute ohne die Entwicklung der Antibabypille um die Frauenrechte bestellt? Jedes Molekül hat bestimmte Eigenschaften, einen Fingerabdruck. Kombiniert man diese Bausteine zu neuen Strukturen, entstehen neue Eigenschaften, die man für bestimmte Anwendungen nutzen kann. Dieses Wechselspiel zwischen Struktur und Funktion fasziniert mich.

Sie legen es nicht auf schnelle Erfolge an, sagten Sie einmal.
Richtig. Viele Projekte, insbesondere an der Schnittstelle von Chemie, Biologie und Medizin, sind komplex. Sie erfordern Zeit und Engagement.

Dafür benötigen Sie einen langen Atem.
Ja. Ein Beispiel: Ich habe im Jahr 2010 angefangen, synthetische fluorierte Zuckermoleküle herzustellen. 14 Jahre später haben wir ein aufregendes Ergebnis publiziert – einen neuartigen Impfstoff gegen Meningitis B und C. Wir sehen das Potenzial, aus diesen fluorierten Molekülen weitere Impfstoffe zu entwickeln, und diese Anwendungen gehen alle auf die Grundlagenforschung zurück.

Sie haben außerdem eine Strategie entwickelt, mit der sich fluorierte Molekülbausteine automatisiert herstellen lassen.
Fluorierte Moleküle sind von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung von Medikamenten, Agrochemikalien und intelligenten Materialien. Es ist uns gelungen, bisher unbekannte Strukturen mit aufregenden neuen Eigenschaften zu erzeugen. Allerdings überdauern fluorhaltige Verbindungen oft langfristig in der Umwelt und können nur schwer abgebaut werden. Wir haben alternative Strukturen entwickelt, die in der Umwelt nicht persistent sind, und hoffen nun, sie mithilfe des „ERC Proof of Concept Grant“ auf den Markt bringen zu können.

Gibt es etwas, das Sie als Wissenschaftler besonders geprägt hat?
Während meiner Assistenzprofessur an der ETH Zürich hatte ich das Vergnügen, mit dem großen Kristallographen Prof. Jack Dunitz zu arbeiten. Jack verfügte über ein enzyklopädisches Wissen über die Wissenschaft, und die täglichen Gespräche mit ihm haben mich geprägt. Ein Jahrzehnt später kann ich diese Diskussionen oft in meiner eigenen Arbeit wiedererkennen. Wissenschaft ist kumulativ, und wir können die Zukunft nicht ohne Kenntnis der Vergangenheit gestalten. Ich schätze die Geschichte der Wissenschaft sehr und lese gerne historische chemische Literatur. Sie ist nicht nur viel schöner geschrieben als heute, sondern die Wissenschaftler der Vergangenheit führten oft fantastische Experimente durch, ohne die heutige Technologie zu haben.

Muss man diese Geschichte kennen, um zu forschen?
Das sollte man. Sehr oft sind ‚neue‘ Entdeckungen gar nicht so neu! Was ist Ihnen wichtig? Die Chemie war noch nie von so großer gesellschaftlicher Bedeutung. Ich habe das große Glück, dass die organische Chemie nicht nur mein Beruf, sondern auch mein Hobby ist. Meine Hoffnung ist, dass meine Kinder das gleiche Maß an innerer Zufriedenheit erreichen, ganz egal, welche Berufe sie ergreifen.

Dr. Christina Hoppenbrock


Dieser Beitrag stammt aus der Broschüre „Zwölf Monate, zwölf Menschen“, erschienen im Februar 2025.

Download der gesamten Broschüre als pdf-Datei

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